Der Löwenmensch

Geschichte und Bedeutung einer „gewollten Schnitzerei“

Er war da. Vierzigtausend Jahre alt. Mit Werkzeugen aus Feuerstein gekonnt aus dem rechten Stoßzahn eines steinzeitlichen Mammuts geschnitzt, von einem unbekannten Vertreter des auf der schwäbischen Alb ansässigen Homo sapiens. Ein Mischwesen, der Kopf einer Raubkatze, der Körper eines Mannes, Mikrometer für Mikrometer durchleuchtet von Röntgenstrahlung mit 300 Kilovolt. Ein einzigartiges, auratisches Stück urzeitlicher Handwerkskunst, eingespannt in den Tonnen schweren Computertomographen des fem. Die Rede ist vom Löwenmenschen.

1939 wurden unter der Regie des Tübinger Forschers Robert Wetzel Überreste der Elfenbeinskulptur in der Stadel-Höhle bei Ulm gefunden. Wenige Tage später brach der Krieg über Europa herein und die Kisten mit den Fragmenten gerieten schnell in Vergessenheit. Dass in ihnen eine archäologische Weltsensation ruhte, ahnte damals niemand, fast niemand. Denn in einem Brief sprach Wetzel bereits wenige Tage nach der Entdeckung ganz unmissverständlich von „Bruchstücke(n) einer Elfenbeinplastik“: „Was sie darstellen sollte, ist nicht erkennbar; die gewollte Schnitzerei ist einwandfrei sicher.“ Im Jahr 1956 vermachte Wetzel seine umfangreiche Sammlung dem Ulmer Museum, in deren Archiven der Löwenmensch bis 1969 seinen Dornröschenschlaf fortsetzte. Dem Archäologen Joachim Hahn war es vergönnt, das kleinteilige Puzzle zu identifizieren, das in einer der 2000 Schachteln seiner Entdeckung harrte. 1970 publizierte Hahn erstmals über den „Ulmer Tiermenschen“, bis zur ersten Rekonstruktion, die das Ulmer Museum 1988 einer staunenden Öffentlichkeit präsentierte, dauerte es weitere achtzehn Jahre. Der Löwenmensch war wiedergeboren.

2010 dann die Überraschung: Der ursprüngliche Ausgrabungsort von 1939 war gefunden und mit ihm zahlreiche unbekannte Fragmente des Löwenmenschen. Schnell erkannte man, dass die alte Zusammensetzung nicht nur zwangsläufig unvollständig, sondern auch fehlerhaft gewesen war. Heute, nach über einem Jahr Restaurierungsarbeit, zeigt sich die Skulptur in neuer Pracht: Neugefundene und bislang nicht integrierbare Teile aus dem Bestand verleihen dem Löwenmenschen eine Gestalt, die feiner und prägnanter ist als je zuvor.

Im Rahmen der Kooperation mit dem Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart wurde die aktuelle Rekonstruktion nun erneut im Röntgen-Computertomographen am fem Mikrometer für Mikrometer zerstörungsfrei durchstrahlt. Womöglich liefert der dreidimensionale Datensatz weitere Erkenntnisse über die innere Struktur und den Herstellungsprozess des Objekts. Vor allem aber erlaubt er die Anfertigung musealer Reproduktionen von höchster Qualität. 40.000 Jahre Menschheitskunst für die Ewigkeit.

Verborgen indes bleibt selbst der stärksten Röntgenstrahlung die Antworten auf die Fragen, die sich jedem aufdrängen, der den Löwenmenschen zu Gesicht bekommt: Wieso? Wozu? Der Löwenmensch ist offenkundig kein Zufall. Er ist das Werk eines Spezialisten und das Resultat einer vorgängigen Idee, einer konkreten geistigen Vorstellung, die in der detailreichen Gestalt, der Wahl des Materials und in dem rekonstruierten Herstellungsprozess klar zutage tritt. 300 Stunden, so das Ergebnis einer experimentellen Nachbildung mit Werkzeugen aus Feuerstein, musste der urzeitliche Kunsthandwerker in die Skulptur investieren. Die herausragende Bedeutung des Mischwesens aus Elfenbein musste dem, der schnitzte und denen, die ihn dabei beobachteten und für die Arbeit freistellten, bewusst gewesen sein. Kult, Ritual und Mythos heißen die Schubladen, in denen wir eine Antwort nach dem „tieferen Ursprung“ und der „inneren Zielsetzung“ (Ernst Buschor) des Objekts vermuten, aber diese großen Titel weisen uns lediglich die grobe Richtung, eine Erklärung liefern sie nicht.

Einen philosophisch-anthropologischen Versuch zur Lösung jener Rätsel, die uns die steinzeitlichen Künste aufgeben, unternimmt der Philosoph Arnold Gehlen (1904-1976) in seinem 1956 erschienenen Werk „Urmensch und Spätkultur“. Im Zentrum seiner Überlegungen steht keineswegs die Kunst, sondern die klassische politische und sozialwissenschaftliche Frage, wie und wodurch eine dauerhafte Ordnung innerhalb einer prinzipiell jederzeit von Instabilität und Zerfall bedrohten Gruppe möglich ist und garantiert werden kann. Für Gehlen sind es objektiv gültige, überpersönliche „Institutionen“ oder „Sozialregulationen“, die eine soziale Ordnung begründen und dem „Mängelwesen Mensch“ – dem es im Unterschied zum Tier an Instinkten, also an festen Zielen und einem definierten Lebensraum fehlt – Halt und Sicherheit geben. Die kunstvoll geformten Skulpturen und virtuos ausgeführten Höhlenzeichnungen der Steinzeit, die mit unserem heutigen, wesentlich kommerziell geprägten Verständnis von Kunst und Kunsthandwerk kaum etwas zu tun haben, spielen in Gehlens Deutung die Rolle von sogenannten „Außenwelt-Stabilisierungen in der Darstellung“. Stabiler, d.h. unabhängiger vom Zufall, wird das Dasein der altsteinzeitlichen Gruppe durch die Sicherung von lebensnotwendigen Dingen wie Nahrung, Kleidung und Wohnung sowie durch die Fixierung von „Außenweltdingen“ wie Tieren und Handlungen in der bildhaften Darstellung: „Hier liegt nun eine der anthropologischen Wurzeln der Kunst ... Da der uns heute selbstverständliche, auf das bloß Ästhetisch-Emotionale zurückgeschnittene Begriff der Kunst dabei nicht zu unterlegen ist, müssen wir hier schon die Kategorie der Darstellung einführen ... die Darstellung ist die Überführung in die Kategorie des Beisichbehaltens und der Dauer, sie ist zunächst in vivo, als imitatorischer Ritus erfolgt und erst sekundär als Darstellung in materia, als Malerei oder Plastik“. Der imitatorische Ritus ist die erste und ursprüngliche Form des nachahmenden Verhaltens, auch der dramatischen Nachahmung von Tieren. Die Darstellung des Tiers bzw. des Menschen, der als Schamane oder Zauberer ein Tier nachahmt, erfolgt dann in einem zweiten Schritt. Die Bedeutung der Darstellung für die Evolution des menschlichen Geistes ist kaum zu überschätzen: Während das Tier fast völlig im praktischen Lebensvollzug aufgeht, gelingt es dem Menschen bzw. der Gruppe mit der Darstellung eine Distanz zur unmittelbaren Wirklichkeit herzustellen. Im Medium des Bildwerkes wird eine Gestalt oder ein Vorgang des Lebens wiederholt, stabilisiert und beruhigt, das heißt der Sphäre der existenzbedrohenden Konfrontation entzogen.  

Was aber stellt der Löwenmensch dar, welches Bewußtsein kommt in ihm zum Ausdruck und in welchen magischen Praktiken und Riten wurde er womöglich verwendet? Zeigt denn der Löwenmensch tatsächlich ein Mischwesen oder den in das Löwenfell gehüllten Zauberer? Und wieso überhaupt ein Höhlenlöwe? Auf die letzte Frage gibt Gehlen eine überzeugende Antwort: „Dass die großen, gefährlichen Jagdtiere zu den ausgezeichneten 'Appelldaten' (also Auslösern) gehörten, kann nicht zweifelhaft sein: ihre gewaltige Vitalität, ihre ungeheuerliche 'Prägnanz' und dramatische Sinnlichkeit, die extreme Breite entbundener Affekte von Gier bis zur Angst sorgten dafür ... Mimische Riten, in denen das Erscheinen des Wildes und seine Tötung dargestellt wurden, müssen seit unbestimmbaren Zeiten aufgeführt worden sein.“ Es ist also kein Zufall, dass wir unter den urzeitlichen Bildwerken Mammuts, Wildpferde, Bisons und Höhlenlöwen finden, war doch die Gruppenjagd geradezu die Basis des Lebens und das Jagdtier ist eben wirklich das älteste nachweisbare Ritualobjekt. Fraglich hingegen bleibt, ob wir es im Falle des Löwenmenschen mit der Darstellung eines Mischwesens oder eines verkleideten Menschen zu tun haben. Rätselhaft ist beides! Stellte er ein Mischwesen dar, so müssten wir fragen, wodurch die höchst voraussetzungsvolle Konzeption eines Wesens motiviert war, das auf einem menschlichen Körper einen Tierkopf trägt. Wäre der Löwenmensch hingegen die Darstellung eines Schamanen, dann würde man gerne erfahren, wieso der steinzeitliche Kunsthandwerker nicht ausschließlich den dargestellten Löwen, sondern auch – und das ist ein gravierender Unterschied – den ihn darstellenden Menschen schnitzte. Wir dürfen wohl folgendes annehmen: Im rauschhaften Ritual löste sich diese Unterscheidung auf, Mensch und Kostüm verschmolzen im Erlebnis der Gruppe zu einer untrennbaren Einheit. Eine letzte, ein wenig ketzerische Überlegung sei abschließend erlaubt: Was, wenn der Löwenmensch überhaupt kein Mensch mit Tierkopf wäre, sondern ein Löwe und nichts als ein Löwe? Schauen wir noch einmal genau hin: Die überaus kräftigen Oberschenkel könnten auch die eines Löwen sein, auch der langgestreckte Oberkörper ist untypisch für einen Menschen. Und dann die absichtsvoll gesetzten Kerben auf dem linken Oberarm: Tiefe Spuren eines Kampfes auf Leben und Tod? Mit anderen Worten: Der Löwenmensch eine Trophäe, kunstvolles Zeichen des Sieges über einen gleichermaßen gefürchteten und verehrten Widersacher?

Wir wissen es nicht und kommen über Spekulationen an dieser Stelle nicht hinaus. Glücklicherweise! möchte man ergänzen, denn auch in dem Menschen von Heute ist das Bedürfnis nach Zauber und Geheimnis lebendig, das ein restlos durchschauter Löwenmensch nicht mehr stillen könnte...

Patrick Wais

Weitere Informationen finden Sie auf www.loewenmensch.de und in der Publikation Die Rückkehr des Löwenmenschen. Geschichte Mythos Magie.

Bildnachweis: fem, Patrick Wais